LESENSWERT #9

Symbolbild: Pixabay

IN DIE WÄLDER GEHEN, HOLZ FÜR EIN BETT KLAUEN Martina Hefter

Martina Hefter nähert sich in ihren Texten unterschiedlichen Grenzen, um sie zu verschieben oder zu überschreiten. In ihrem in fünf Teile gegliederten Band bedenkt sie die Gattungsgrenzen zwischen Gedicht, Essay und Szenografie, die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Natur und Kultur, zwischen Überfluss und Askese, zwischen Mythos und Postmoderne, zwischen Utopie und Ironie. Die »Essays über Pflanzen« spüren den Spuren menschlicher Manipulation in der Natur nach. Im titelgebenden Zyklus spricht eine Mutter anhand eines klapprigen Bettes über Holzwirtschaft, Ausbeutung und die moralischen Verstrickungen, die aus einem maßlosen Konsum herrühren. In der Sage »flammen« bewegt sich eine Frau namens Cynthia Artemis Moll zwischen einem Leben in der Natur und in der Stadt und untersucht Liebes- und Freundschaftskonzepte. Der Zyklus »Linn Meier« nimmt die Erfahrungswelt einer Magersüchtigen in den Blick, während »Geistern« beschwört, was mit unserer Schulweisheit nicht zu fassen ist. Mit großer Sensibilität für körperliche und seelische Zustände und gesprochen aus wechselnden Perspektiven übersetzt die 1965 geborene Martina Hefter, die auch als Choreographin tätig ist, Erfahrungen, lebendige Körper in Textkörper, zieht uns in eine fantastische Welt, aus der die Wirklichkeit nicht verbannt ist: „Die Pflanzen schwinden irgendwann, treten woanders wieder hervor, / vorerst hier, reichen sie mir an die Stirn. / Leitern aus Pflanzen. Ich zieh mich dran hoch, steige.“ (Beate Tröger)

Kookbooks Verlag
ISBN 978-3948336103
Preis 19,90 EUR

KAUKASISCHE TAGE – Banine

Als junges Mädchen dachte sie, die jüngste von vier Töchtern eines unfassbar reichen Ölbarons, sie sei verdammt zu einem Leben in Überfluss und Langeweile und werde niemals einen Schritt in die weite Welt hinaussetzen. Und wie anders sollte alles kommen! Umm-El-Banine Assadoulaeff, geboren 1905 in Baku, erlebte mehrfach, „wie eine Welt unterging“. Sie verlor, wie ihre ganze Familie, die ererbten Millionen. Und sie landete sehr wohl in der weiten, sogar der großen Welt. Als Banine, so ihr Schriftstellerdeckname, 1992 in Paris starb, war sie nicht nur unter Literaten bekannt. Ihre Memoiren »Kaukasische Tage«, im Original 1946 erschienen und neu ins Deutsche übersetzt von Bettina Bach, erzählt von einer Jugend unter muslimisch betenden, aserbeidschanisch fluchenden, die Russen verachtenden und das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfenden Großeltern, Onkeln, Tanten, Vettern und Cousinen, beaufsichtigt von deutschen, französischen und englischen Gouvernanten, deren Anstrengungen, westliche Bildung zu vermitteln, gegen das, was die Autorin „orientalische“ Trägheit und Frühreife nennt, kaum eine Chance zu haben schien. Eine aussichtslose erste große Liebe zu einem eleganten Bolschewiken und eine von der Familie erzwungene Frühehe mit 15 Jahren. Fluchten nach Persien, Konstantinopel und schließlich Paris. Diese Erinnerungen zeichnen scheinbar leichthändig das Porträt eines Kindes, einer jungen Frau zwischen traditionellen Prägungen, früher Emanzipation und revolutionären Wirren, und sie tun dies mit detailfreudiger Sinnlichkeit, sympathischer Selbstironie und überraschender Tabulosigkeit. (Julia Schröder)

dtv
ISBN 978-3-423-28234-5
Preis 24,00 EUR

DIE VERLORENEN ZAUBERSPRÜCHE – Robert Macfarlane und Jackie Morris

„Ich bin Zeitspeicher, Atemgeber, Denker; / bin Schmetterlingstadt, Kontinent für Kreaturen. / Doch meine Welt wächst Jahre und splittert in Sekunden; / deine Säge kann mich fällen, deine Axt mich zwingen“: In Robert Macfarlanes Band „Die verlorenen Zaubersprüche“ kommt zu Wort, was uns in der Natur umgibt, vom Rotfuchs bis zum Mauersegler, vom Ginster bis zur Weißbirke in 21 knappen Gedichten, die von Daniela Seel in ein funkelndes Deutsch gebracht worden sind. Dabei beweist der Autor eine beeindruckende Vielfalt: Macfarlane rappt etwa über Dohlen, er wispert und raunt, er bläst die Backen auf und nimmt dann seine Stimme für eine Reihe nüchterner Verse wieder zurück. Und Zaubersprüche, eindringliche Beschwörungen enthält der Band tatsächlich, aber es fragt sich, wer da eigentlich angerufen wird. Denn wo es hier um die Natur geht, da geht es ebenso um den Menschen, der manchmal staunend, oft genug aber wie blind vor der Tier- und Pflanzenwelt steht. Und der sich unversehens angesprochen findet: „Erkenne dich im Ginster“, heißt es da, oder „Leg dein Ohr an meine Rinde, hör die Säfte sirren, / lerne meinen Holzherzschlag, mein Blätterflirren.“ Wer dem Folge leistet, wird kaum mehr derselbe sein wie zuvor. Das gilt auch für die Lektüre des Bandes, den die Künstlerin Jackie Morris verschwenderisch reich illustriert hat. (Tilman Spreckelsen)

Naturkunden bei Matthes und Seitz
ISBN 978-3-7518-0208-6
Preis 22,00 EUR

 

TEXT Hans-Werner Mayer