
Chancen und Risiken bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Was bedeutet das für die Zukunft der Krankenhäuser und im Umkehrschluss natürlich auch für die Patienten? Es geht ja um weit mehr als nur die digitale Patientenakte.
Simone Schlosser (li) Kaufmännische Geschäftsführerin Digitalstadt Darmstadt GmbH
Jana Wondra (re) IT-Projektmanagerin bei der Klinikum Darmstadt GmbH und Bereichslead Gesundheit bei der Digitalstadt Darmstadt GmbH
MM: Nach einer Untersuchung von McKinsey im Jahr 2017 beschreiben 85 Prozent der Geschäftsführer die Reife und Qualität der Digitalisierung im eigenen Krankenhaus als unzureichend. Wie würden Sie den Stand der Digitalisierung im Klinikum benoten?
_ Jana Wondra: Im Klinikum Darmstadt ist der Stand der Digitalisierung wesentlich weiter, von daher sind wir auch mit dem Siegel „Digital Champion“ ausgezeichnet worden. Die Digitalisierung wurde im Klinikum früh zur Managementaufgabe und wird umfassend angegangen. Sie soll prozessunterstützend wirken und für mehr Sicherheit, Qualität und Transparenz sorgen, um ein effizientes Arbeiten zu ermöglichen, was letztendlich der Behandlungsqualität der Patientinnen und Patienten und der Mitarbeiterzufriedenheit zugutekommt. Derzeit verfügt das Klinikum über viele einzelne parallel laufende Digitalisierungsleistungen – z. B. digitales Archiv, teildigitalisierte Patientenakte, Online-Laborabfragen, telemedizinische Anbindungen. Ein entscheidender Schritt fehlt noch: damit jeder Mediziner 24/7 auf alle Anamnesen und Befunde, Arztbrief und OP-Berichte zugreifen kann, müssen alle Systeme ineinander greifen und die Daten jederzeit ortsunabhängig zur Verfügung stehen. Zum einen sind hier Projekte bezüglich des Datenschutzes und der Datensicherheit aber auch der volldigitalisierten Patientenakte notwendig, welche mit der digitalen Fieberkurve und Visite 2019 auf den Weg gebracht werden.
MM: Die Umfrage zeigte auch, dass die deutschen Krankenhäuser zu 91 Prozent weniger als zwei Prozent, bei knapp der Hälfte sogar weniger als ein Prozent ihres Gesamtbudgets jährlich in digitale Lösungen investieren. Welche konkreten Investitionsmaßnahmen planen Sie in den nächsten ein bis zwei Jahren im Bereich Digitalisierung?
_ Jana Wondra: Im Klinikum Darmstadt gehen Sparmaßnahmen und Investitionen Hand in Hand. Ein Fünfjahresplan zur Umsetzung einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie sieht jährliche Investitionen von 3 Prozent des Jahresbudgets für IT und Digitalisierungsprojekte vor. Konkrete Investitionsmaßnahmen fließen in die IT-Sicherheit, den Datenschutz und die WLAN- und Netzwerkstruktur. Aber auch im Hinblick auf die Digitalisierung von Prozessen, wie die Einführung der digitalen Visite oder dem digitalen Pflegeprozessmanagement in 2019 wird in zukunftsorientierte Projekte investiert.
MM: In der deutschen Gesundheitsbranche haben der Datenschutz und die ärztliche Schweigepflicht eine starke und berechtigte Tradition. Blockieren Datenschutzbedenken aber nicht auch manchmal unnötig die Modernisierung und Digitalisierung?
_ Simone Schlosser: Das kann man so sehen, aber Datenschutz ist gerade in diesem Zusammenhang unglaublich wichtig. Schließlich geht es hier um sehr sensible persönliche Daten, bei denen besondere Maßstäbe anzusetzen sind. Ich würde Datenschutz nicht als Blockierer ansehen, sondern als Notwendigkeit; als Voraussetzung, die gegeben sein muss, genauso wie funktionierende Technik.
MM: Auf welchen Bereich können digitale Lösungen Ihrer Meinung nach die positivsten Auswirkungen für die Patienten haben?
_ Jana Wondra: Die positivsten Auswirkungen der Digitalisierung sind durch eine flexiblere und schnellere Kommunikation auf Basis eines sicheren Datenaustausches im Gesundheitswesen zu erwarten, da aktuell aufgrund der vorhandenen Medienbrüche Daten weder zeitnah noch ortsunabhängig zur Verfügung stehen. Allerdings fehlt hierzu aktuell der gesetzliche Rahmen, auch wenn Herr Spahn das Ziel verfolgt, bis 2021 die Telematik deutschlandweit auf den Weg zu bringen. Das Projekt Gesundheitsplattform, das wir für die Digitalstadt initiieren, setzt genau dort an und möchte auf Basis zertifizierter Techniken und Standards die Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren des Gesundheitswesens in Darmstadt ermöglich, unter der Prämisse, dass der Patient/Bürger die Hoheit über seine sicheren Daten hat.
MM: Viele Patienten möchten nicht für alle behandelnden Ärzte zu 100 Prozent transparent sein. Ist eine Anonymisierung der Daten auch in der Zukunft gewährleistet und ist ein perfekter Datenschutz technisch überhaupt möglich?
_ Jana Wondra: Gesundheitsinformationen sind als personenbezogene Daten besonders schützenswert. Darüber hinaus unterliegen sie dem Arztgeheimnis. Die Erhebung von Patientendaten bedarf der regelmäßigen Zustimmung der Betroffenen. Sinnvoll ist, dass der Patient die Datenhoheit über seine Daten erhält und selbstbestimmt entscheiden kann, wem er sie gezielt zur Verfügung stellt. Eine Anonymisierung der Gesundheitsdaten ist technisch keine Herausforderung und wird bereits im Klinikumfeld eingesetzt; auch ist ein umfassender Datenschutz innerhalb des Klinikums und der Kommunikation zu den Kostenträgern gewährleistet. Komplexere technische Anwendungen bzgl. des Datenschutzes müssen bei den Transportwegen von Daten zu externen Applikationen berücksichtigt werden – z.B. bei der Übertragung von Daten in Gesundheitsportale verschiedener Krankenkassen.
Warum treibt das Klinikum die Digitalisierung voran? Die Klinikum Darmstadt GmbH will Treiber sein – und nicht Getriebener. Um sich für die Zukunft zu rüsten, öffnet das Haus sich nicht nur Verbünden und Partnern aus der Region. Es schafft mit erzielbarem und moderatem Wachstum auch aus der finanziellen Schieflage heraus die kommunale Eigenständigkeit zu erhalten. Die Geschäftsführung investiert bei all dem überdies in die für die Zukunft unabdingbar wichtigen Neubauten, Bestandsbauten, Medizintechnik und IT- Infrastruktur.
Chancen
• Verbesserte Patientenversorgung vor allem in den ländlichen Regionen
• Optimierung der Kommunikation zwischen den Gesundheitsanbietern zur effizienteren Patientenversorgung (Vermeidung von Doppeluntersuchungen)
• Schnellere Verfügbarkeit diagnoserelevanter Daten
•Breitere Nutzung von bereits erhobenen Patientendaten in der Forschung „Big Data“
• Dadurch mehr Sicherheit und Qualität
• Transparentere Prozesse
• Effizienteres Arbeiten
• Entlastung von Dokumentationsarbeiten und damit mehr Zeit für und mit dem Patienten
Risiken
• Dass Daten unabsichtlich Dritten zugänglich gemacht werden ohne Einverständnis des Patienten (Datenschutz, Cybersicherheit)
• Datenmissbrauch
• Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt, das Menschliche geht verloren

MM: Wie schützt man die elektronische Patientenakte gegen Datendiebstahl und Verfälschung und gegen Strom- und Netzausfälle?
_ Jana Wondra: Das Klinikum Darmstadt gehört als eines der großen Krankenhäuser in Deutschland zu den kritischen Infrastrukturbereichen, die besonders geschützt werden, was weitere Sicherheitsvorkehrungen und Zertifizierungen mit sich bringt. Wir orientieren uns an allen Vorgaben und Vorschlägen des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik und streben in 2019 die ISMS-Zertifizierung nach ISO 27001 an.
MM: Gibt es bereits ein elektronisches System zur Verschreibung von Medikamenten und planen Sie auch Telemedizin-Angebote und Online-Terminvergabe einzurichten?
_ Jana Wondra: Telemedizinische Anbindungen sind im Klinikum im Bereich der Schlaganfallversorgung und des Tumorboards bereits seit einigen Jahren im Einsatz. Eine Online-Terminvergabe ist in einer ersten sehr einfachen Stufe realisiert, weitere Ausbaustufen sind in Planung. Die digitale Medikationsanordnung und -gabe erfolgt im Klinikum über das Softwareprodukt ID-Pharma, welches 2019 mit dem Roll-Out der digitalen Fieberkurve krankenhausweit zum Einsatz kommt.
Da die Telematik (=elektronische Gesundheitskarte) die Realisierung des eRezeptes noch nicht umgesetzt hat, ist eine automatisierte Weiterleitung des Rezeptes an Apotheken bisher aufgrund der fehlenden gesetzlichen Vorgaben nicht möglich.
MM: Es hat mehr als 13 Jahre gedauert, bis die Standards für eine elektronische Gesundheitskarte festgelegt wurden. Glauben Sie, dass die Idee des papierlosen Krankenhauses jemals umgesetzt werden kann?
_ Simone Schlosser: Digitalisierung hat den Anspruch der effektiven Nutzung begrenzter Ressourcen zum Wohle der Menschen. Da sprechen wir in dem Zusammenhang von Personalressourcen, Schnittstellenproblemen aber auch Informationsdefiziten, für die die digitale Patientenakte Lösungen anbietet. Und vielleicht dauert das papierlose Büro auch noch mal 13 Jahre, aber ich bin fest davon überzeugt: das ist die Zukunft.
MM: Welche Impulse setzen der Wettbewerbsgewinn Digitalstadt und die Digitalstadt Darmstadt GmbH?
_ Simone Schlosser: Durch den Wettbewerbsgewinn sind wir digitale Modellstadt mit dem Auftrag, digitale Stadtentwicklung über alle Bereiche der Daseinsvorsorge voranzutreiben. Wir haben hierfür eine Projektstruktur aufgebaut, die sich über viele Organisationseinheiten der Stadt- und Stadtwirtschaft und auch der Wirtschaft und Wissenschaft erstreckt. Damit haben wir organisationsübergreifende, interdisziplinär agierende Strukturen geschaffen. Durch die Projektlaufzeit ist Handlungsdruck entstanden, der eine gewisse Dynamik fordert. Die Digitalstadt Darmstadt GmbH wurde dabei als projektsteuernde Einheit von der Wissenschaftsstadt Darmstadt eingesetzt. Wir sind für das Projektmanagement, Vernetzung, Finanzierung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Wir haben die Schnittstellen im Auge, bringen die Akteure zusammen, auch und vor allem in dem Sinne, dass alle ein gemeinsames Ziel verfolgen, in die gleiche Richtung gehen.
MM: Welche Ziele verfolgt die Digitalstadt Darmstadt im Bereich Gesundheit?
_ Simone Schlosser: Das oberste Ziel ist „Steigerung der Lebensqualität“. Mit den Projekten, die wir im Gesundheitsbereich verfolgen, wollen wir Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem reduzieren und über die Vernetzung der verschiedenen Akteure im Gesundheitsbereich die Behandlungsprozesse verbessern.
MM: Wie sieht die Vision aus? Und was ist davon realistisch in 2019 realisierbar?
_ Simone Schlosser: Die übergeordnete Vision ist, „den Alltag der Menschen in der Stadt zu erleichtern“. Im November haben wir den Darmstädterinnen und Darmstädtern unsere Digitalstadt-Strategie vorgestellt und werden über diese mit ihnen bis zum 11. Dezember ins Gespräch kommen. Die Strategie als auch unsere Projekte sind auf https://dabei.digitalstadt-darmstadt.de online, für jeden sicht- und kommentierbar.
_ Jana Wondra: Das Ziel des Digitalisierungs-Masterplans ist das Krankenhaus 4.0, das für die Vision einer modernen, auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmten Gesundheitsversorgung steht. In 2019 setzen wir erste Schritte im Rahmen der Digitalstadt für eine gemeinsame Gesundheitsplattform um – zunächst für unsere Patientinnen und Patienten – und planen und denken diese aber immer stadtweit und sektorenübergreifend. Wir wollen helfen, gesund zu bleiben und zu werden. Jeder soll auf seine Gesundheitsdaten zugreifen und diese auch weitergeben können – wenn er dies möchte.
Die Fragen stellte Friederike Oehmichen.