
Erholungswert und Arbeitskräfte stellt der Odenwald bereit
Nicht alle Menschen können oder wollen in Darmstadt wohnen. Rekordtemperaturen in der Stadt, steigende Immobilienpreise im 15-km-Radius und die höhere Lebensqualität in (gefühlt) ländlich geprägten Gebieten ziehen die Menschen ins weitere Umland. Darauf müssen Politik und Regionalplanung mit mehr Grün und attraktivem öffentlichen Verkehr auch in den Dörfern reagieren.

Die in Ausgabe 02/22 vom »M Magazin« beschriebene »15-Minuten-Stadt« bietet zu wenig Raum für den verstärkten Zuzug, und die zunehmende innere Verdichtung Darmstadts, geplante Zubauten zwischen Stadtteilen heizen das Stadtklima weiter auf – der Juli 2022 bleibt in historischer Erinnerung und sollte zu entsprechenden Schlüssen führen. Die seit April 2022 erfahrbaren dichteren Takte für Straßenbahn und Stadtbus sind nur das Nachholen von schon seit 2012 nötigen Maßnahmen – wobei die Region weitgehend unberücksichtigt bleibt.
Ebenso, wie die Landesregierung den „Frankfurter Bogen“ mit 30 Minuten Zugfahrzeit um Frankfurt Wohnraumpotenziale erschließen möchte, muss Darmstadt die Gesamtregion aktivieren. Doch 30 Minuten Zugfahrzeit reichen für den Wohnraumbedarf und den Wunsch nach Leben im Grünen nicht aus. Im Umkreis von 60 Minuten Fahrzeit im öffentlichen Verkehr ab einem der Darmstädter Bahnhöfe hingegen gibt es ausreichend Potenziale. Das stärkt die regionalen Mittel- oder Unterzentren entlang der Odenwaldbahn wie Ober-Ramstadt, Reinheim, Groß-Umstadt, Höchst, Bad König, Michelstadt und Erbach, entlang der Main-Rhein-Bahn wie Dieburg und Babenhausen. Deren lokaler Einzelhandel und weitere Infrastrukturen wie Bildung und Gesundheit brauchen Stärkung und lokale „15-Minuten-Kommunen“, da sie wohnortnah den Autoverkehr reduzieren – um die Klimaziele auch in der Region zu erreichen.
So wichtig in Darmstadt die Verlagerung innerstädtischer Wege vom Auto auf Zufußgehen, Rad und ÖPNV ist, haben sie aufgrund ihrer Kürze nur geringe globale Klimawirkungen. Weitaus wichtiger ist die Verlagerung heutiger Autofahrten aus der Region nach Darmstadt sowie innerhalb der Region. Auch diese leidet unter Straßenverkehr, Stau, Hitze und Wasserknappheit. Jedoch läuft die Politik derzeit in die falsche Richtung: Straßen sollen breiter werden für mehr Auto- und Lkw-Verkehr – die verbindlichen Klimaziele werden so nicht erreicht, ist doch die heutige Straßenverkehrsmenge schon nicht klimaverträglich. Zugleich würden so Grünflächen und Bäume verlorengehen, die für das lokale Klima wichtig sind. Von dieser Kritik ausgenommen sind wenige, die Anwohner entlastende Ortsumfahrungen wie Hahn und Groß-Bieberau.
Von dem nötigen täglichen Halbstundentakt auf allen Bus- und Bahnlinien ist die Region Südhessen weit entfernt und liegt z. B. hinter Teilen des Kreises Bergstraße zurück, wo sogar früher einstellungsgefährdete Bahnstrecken wie im Weschnitztal im
Halbstundentakt fahren. Nicht mit direkten Buslinien verbunden sind Nachbarorte mit jeweils über 10.000 Einwohnern, z. B. Groß-Zimmern und Groß-Umstadt, Mühltal und Seeheim. Fehlt der Direktbus, helfen auch als Nachfolger des 9-Euro-Tickets propagierte 365-Euro-Jahrestickets nicht. Kreisgrenzen dürfen direkte Buslinien nicht mehr ausbremsen: Bisher nur am Wochenende angebotene Routen wie Michelstadt – Bensheim und Michelstadt – Amorbach verdienen ein tägliches Angebot, und für den Ostkreis Darmstadt-Dieburg ist Aschaffenburg ein wichtiges Zentrum, das auch Direktbusse aus Groß-Umstadt braucht.
Während in anderen Teilen Hessens stillgelegte Bahnstrecken mit direkten Zugfahrten nach Frankfurt reaktiviert werden, dämmert die seit 2018 stillgelegte Gersprenztalbahn nach Groß-Bieberau dahin – obwohl sie mit schnellen Direktzügen und unter 60 Minuten Reisezeit nach Frankfurt, 26 Minuten zur TU-Lichtwiese, 30 Minuten zum Ostbahnhof und 35 Minuten zum Nordbahnhof mit Merck große heutige Automengen aufnehmen könnte, die auch attraktive Expressbuslinien nicht bewältigen können.
Mit selbstdisponiertem, mobilen Arbeiten kann die Zahl der wöchentlichen Arbeitswege sinken, jedoch steigen vielfach die Ansprüche an die Wohnfläche, wenn jede Erwerbsperson ein ruhiges Arbeitszimmer wünscht. Das verstärkt den Zuzug sogar in den Odenwaldkreis, wo es diese Flächen zu günstigeren Preisen als rund um Darmstadt gibt, womöglich in der von vielen als Idealtyp gewünschten freistehenden Einfamilienhaus-Idylle. Für diese ist ein Generations- und Eigentümerwechsel absehbar. Dennoch wird es Anwesenheitstage im Betrieb geben. Damit diese längeren Wege nicht im Pkw zurückgelegt werden, muss ein dichtes Bahn- und Busangebot auch Orte ab einer kritischen Größe erschließen: Der nötige Zug-Halbstundentakt muss die Fortsetzung im Busverkehr, ggf. mit Anmeldung, finden. Zur Finanzierung müssen Land und Bund einen deutlich stärkeren Beitrag leisten als bisher. Das spart auch klimapolitisch kontraproduktive Straßenverbreiterungen und reduzierte deren Folgekosten. Das 9-Euro-Ticket des Sommers 2022 zeigt auch, dass die Fahrpreise einfacher verständlich werden müssen, besonders über Kreisgrenzen.
Insgesamt muss die Zusammenarbeit zwischen Region und Stadt deutlich besser werden: So wie Darmstadt überregional bedeutende Infrastruktur wie Kultur, Verwaltung und Ankerpunkte wie Kaufhäuser bereitstellt, ist es vor allem der Odenwald, der einen erheblichen Erholungswert für die Stadt bereitstellt.
Text: Uwe Schuchmann